Sonntag, 23. Oktober 2016

Was hat die Wolle mit Hegel zu tun?

Auf youtube gibt es eine ganze Menge interessanter Filme, zum Beispiel Vorträge oder Gespräche.


Heute hörte ich mir beim Stricken etwas an, das als Gespräch bezeichnet wurde. Oskar Negt sprach über Hegel und versuchte zu erläutern, was ein Begriff ist.
Interessant. Wer kann das schon in ein paar Sätzen darlegen?




Alexander Kluge p(l)atzt aus dem Off immer wieder mit interessanten Assoziationen dazwischen, die das Gespräch chaotisieren und Oskar Negts Geduld, beim Thema zu bleiben, auf eine harte Probe stellen.

Wenn so die Zusammenarbeit zwischen beiden insgesamt war, dann, na ja. Sie werden ja immer mit Horkheimer/Adorno verglichen, was ihr gemeinsames Schreiben von Büchern angeht.

Also Negt sagt, dass die Arbeit am Begriff etwas damit zu tun hat, dass man das Phänomen, das Ding, die Sache, die man vor Augen hat - in ihrem Fall ist es ein Kugelschreiber - , dass man diese Sache in ihrem Werden begreift, ihrem Gewordensein und den gesellschaftlichen Zusammenhängen, die zum Entstehen dieser Sache beigetragen haben, nachspürt.

Man schaut sozusagen hinter die Kulissen des Standbildes und versucht, Zusammenhänge zu erfassen, die zu dem geführt haben, was man nun vor Augen hat.

Währenddessen stricke ich an einer neuen Socke herum und versuche, es durchzuhalten, obwohl die kleine weiße Katze sich in den Faden verbeißt.

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Die Wolle. Ich habe es schwer mit der Wolle. Ihr Geruch zieht mich an, die Farben in den Geschäften oder den Läden im Internet sind oft betörend.

Und doch: Ich schaffe es definitiv nicht mehr, Wolle zu kaufen. Vor fast neun Jahren habe ich die Schulschafe der LenauSchule in Kreuzberg persönlich übernommen, nachdem sie an der Schule im Kollegium nicht mehr erwünscht waren. Die Zeiten änderten sich, das Kollegium war zu großen Teilen ein anderes geworden.

Die Wolle der Schafe wurde früher weggeworfen. Ich habe sie immer als einen Schatz betrachtet, den wegzuwerfen eine Schande wäre. So lernte ich das Spinnen und das Filzen und gab diese Fertigkeiten in der Schule an interessierte Kinder weiter.

Irgendwann konnte ich keine Wolle mehr kaufen. Denn in der gekauften Wolle steckt Blut, Gewalt und Leiden. Das will ich nicht am Leib haben.

Hilal Sezgin hat das in einem Text einmal eindrucksvoll beschrieben. Den Text habe ich leider nicht mehr gefunden.

So mache ich meine eigenen Sachen aus der Wolle der Schafe, die ein Leben ohne Qual leben dürfen, aus der Wolle der Pensionstiere in einer Brandenburger Schäferei.

Diese Wolle ist nicht chemisch zerstört, sie wirkt wie eine Heizung am Körper. Das weiß nur, wer sie einmal getragen hat.
Man muss aber auch auf sie aufassen. Die Motten mögen diese Wolle auch.




Die Weise, wie Wolle heute hergestellt wird, ist für die Tiere in ihrem kurzen Leben die reine Qual. Jede ökonomisch ertragreiche Haltung erzeugt Leiden: Kurze Lebenszeit, gewalttätige Schnellschur, Mulesing, Verschiffung in den Nahen Osten nach wenigen Jahren ohne Wasser und zusammengepfercht zu Tausenden über lange Zeit...

Wer will das eigentlich wissen?? Die strickenden Frauen, die in taktilen und farblichen Wonnen ihres Werkstoffes schwelgen, offensichtlich nicht.

***

Da ich nun die Sorge für die früheren Schul-Schafe einmal übernommen habe, mache ich auch etwas aus ihrer Wolle.

Man muss sie waschen, kämmen, spinnen, zwirnen, haspeln, zum Strang wickeln, nochmal waschen, um die Drehung zu vermindern, stricken, nochmal einmal waschen, damit sie schön sauber und weich wird (immer von Hand) und dann kann man sie tragen, als Pullover, Socke, Hüttenschuh oder man fertigt eine Decke (unglaublich warm oder ein Kissen an.

Daneben kann man sie filzen und so auch viele schöne und praktische Gegenstände herstellen.

Beim Arbeiten macht diese Wolle ungeheuer viel Freude. Sie riecht gut, sie ist weich, sie fettet die Hände (Wollfett/Lanolin). Sie ein lebendiger Werkstoff, der beim Verarbeiten schon große Freude bereitet.

Die Hüttenschuhe, die oben zu sehen sind, sind aus der Wolle dieses Schafs: Er ist eineinhalb Jahre alt und heißt Timo, er hat eine bewegte Geschichte hinter sich, die könnte man einmal erzählen.




Timos Wolle ist besonders weich.
Er ist ein Merinoschaf
und sehr zart und sensibel.
Er hat Vertrauen zu uns Menschen
und wir enttäuschen ihn nicht.


Was hat die Wolle mit Hegel zu tun? In der Arbeit des Begriffs spüren wir Zusammenhänge auf. Wir stellen uns zu diesen Zusammenhängen. Wir begrüßen sie oder wir möchten sie ändern, weil sie mit Leiden und Trostlosigkeit erkauft sind.

Ich freue mich darauf, die Hüttenschuhe aus Timos Wolle später tragen zu dürfen. Sie sind nicht mit dem Leiden behaftet, dem die Tiere als Lieferanten marktgängiger Wolle ausgesetzt sind.


"Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet.."

Adorno: Negative Dialektik.- Ffm, 1970, S. 27

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